Der Sumidagawa1. Er ist nur 23.5 km lang, aber bei Touristen der bebekannteste Fluss in Tokyo. Hier fahren die Boote zwischen Asakusa (Senso-ji), Hamarikyu-Teien und Odaiba sowie die nächtlichen Ausflugsboote Yatakabune.
Bauingenieure werden den Fluss lieben. Allein auf den 7 km zwischen Asakusa und Hamarikyu-Teien liegen 15 Brücken2. Jede Brücke hat einen anderen Bautyp, eine andere Farbe und eine eigene Geschichte, die teilweise nach Deutschland zeigt. Ich eine Flussfahrt nur empfehlen.
Und dennoch: Dieser Sumda-gawa existiert auf Karten erst seit Anfang des 20. Jahrhunderts. Den Flusslauf gab es schon früher, aber nicht unter diesem Namen. Tokyo hat die nervige Angewohnheit Flüsse umzuleiten und umzubenennen.
Der Flusslauf des Sumida-gawa ist eigentlich der des Arakawa, von daher findet man ihn in alten Karten eingezeichnet. Der heutige Ara-kawa existierte früher nicht. Und auch der Ara-kawa in seiner damaligen Form war kein Original …
Ganz am Anfang …
Tokyo befindet sich im Süden der Kantoebene. Zur Ebene gehören diverse Hochflächen. Die Größte von ihnen ist die Musashino-Ebene die von Ome bis nach Yamanote3 「山の手」reicht, wo sie an die Schwemmebenen von Arakawa grenzt.
Die Kantoebene ist von einem komplexen Flussnetz durchzogen, die im Norden und Westen entspringen und im Süden und Osten ins Meer bzw. die Tokyobucht münden. Die wichtigsten Flüsse sind (ohne die Endung -gawa): Tone, Watarase, Kinu, Kokai, Naka und Kuji im Norden sowie Ara, Sagami und Tama im Süden. Dabei ist zu beachten, dass Flüsse sich nicht nur vereinen, sondern auch teilen. (Das fördert nicht unbedingt die Übersicht.)
Das Flussbett des heutigen Sumida-gawa war das Gebiet, in dem die Flüsse Tone-gawa, Iruma-gawa und Ichi-kawa zusammenflossen und in die Tokyobucht mündeten. Das Ostufer auf Höhe der heutigen Shirakige-bashi und Suijin-bashi wurde Sumida genannt.4 Kurz vor der Tokyobucht teilten Sandbänke den Strom in mehrere Arme. Durch Versandung änderte sich die Lage des Hauptstroms über die Zeit mehrfach.
Zur Zeit der Tokugawa …
Als Edo Anfang des 17. Jahrhunderts zur Hauptstadt aufstieg gab es mehrere Teilströme. Welcher der Läufe dem heutigen Sumida-gawa entspricht, kann nicht mehr nachvollzogen werden. Beachtlich waren aber die Anstrengungen, die unternommen wurden, um die Schwemmebene (was Shitamachi「下町」werden sollte) unter Kontrolle zu bringen:
Bereits 1594 wurde der Aino-gawa vom Tone-gawa getrennt. 1629 wurde auch der Yokujuma-gawa durch einen Deich abgetrennt und der Ara-kawa5 in den Irumi-gawa umgeleitet.
1638 wurden die Wasser des Tone-gawa final umgeleitet, sodass sie heute bei Choshi in den Pazifik fließen. Vorausgegangen waren Umleitungen am Shin-kawa und Akahori-gawa in 1621 sowie eine Öffnung des Edo-gawa in 1635 zum Fluss, der der Tone werden soll.
Um diese Leistung in Relation zu setzen: Der Tone ist der zweitgrößte Fluss Japans. Er hat ein Einzugsgebiet von 16.840 km² und transportiert 256.000 Liter pro Sekunde. Die Arbeiten erfolgten 100 Jahre vor Erfindung der Dampfmaschine, zur Zeit, als in Europa der 30-Jährige Krieg tobte.
Der jetzt neue Arakawa floss nahe am Kaiserpalast vorbei in die Tokyobucht. Der Fluss trug auch den Namen O-kawa (großer Fluss).
Zusammenfassung: Der Tone-gawa floss ursprünglich in die Tokyobucht und der Ara-kawa mündete in den Tone-gawa. In der Edozeit wurde der Tone-gawa in den Pazifik umgeleitet und der Arakawa in das Flussbett des Irumi-gawa, der Teil des Tone-gawa-Systems war. Der Edogawa, der ebenfalls in dieTokyobucht mündet, zweigt seitdem vom Tone-gawa ab.
Ab der Meiji-Ära …
Nach der schweren Flut von 1910 wurde beschlossen einen Überlaufkanal für den Ara-kawa zu bauen, der zukünftig hohe Pegel nach starken Regenfällen (z.B. während Taifunen) und damit Überflutungen im Zentrum Tokyos verhindern soll. Es wurde eine Sperrwerk bei Iwabuchi errichtet sowie ein knapp 20 km langer Kanal. Der Kanal wurde 1924 fertiggestellt.
Erst am 24. März 1965 erfolgt dann die letzte Umbenennung: Der Abflusskanal wurde zum Ara-kawa, und der parallele Flussabschnitt des Ara-kawa ab dem Sperrwerk wurde zum Sumida-gawa.
Wasserqualität
Noch im 19. Jahrhundert war der Sumida-gawa reich an Fischen und eine Trinkwasserquelle für Tokyo. Zu dieser Zeit hingegen waren Europas Flüsse eine einzige Kloake. Das Jahr 1858 beispielsweise ging als „The Great Stink“ in die Londoner Geschichte ein.
Nach Ende von WWII ging es dann rapide bergab mit der Wasserqualität. Die Stadt, die Bevölkerung und auch die Industrie wuchs rasend schnell. Der Boom nach dem Krieg sorgte dafür, dass immer mehr Haushalts- und Industrieabwässer ungeklärt in den Fluss eingeleitet wurden. Der Sumida wurde zum Opfer des Aufschwung Tokyos zur Megacity.
1961 wurde sogar das berühmte Feuerwehr an der Ryogoku-bashi abgesagt. Der Gestank war zu groß. Zuvor fiel dieses Ereignis mit einer über 200-jährigen Tradition (verständlicherweise) nur im Krieg und nach dem großen Erdbeben von 1923 aus.
In den 60ern bestand das Flussufer aus hohen Schutzdämmen, die den Fluss von der Bevölkerung abschirmten. Die Dämme dienten vermutlich primär dem Hochwasserschutz, sie hielten aber auch den Gestand und den Anblick verborgen.
Es hat lange gedauert, bis der Fluss wieder akzeptabel roch und die Wasserqualität stieg. Erst 1988 wurden 90% der Abwässer Tokyos geklärt, und 100% wurden erst 1994 erreicht. Zu dieser Zeit waren auch strenge Regeln für Industrieabwässer in Kraft. Die Uferdämme waren zurückgebaut und der Fluss wieder ein Teil der Stadt.
Mit der Jahrtausendwende kehrten Wasserpflanzen, Fische und Vögel zurück in und an den Fluss. Kaum vorstellbar. 2006 bin ich zum ersten Mal auf Fluss gefahren. Ein Highlight, an das ich mich heute noch erinnere. Kaum vorstellbar, dass dies 20 Jahre zuvor nicht möglich gewesen wären und 40 Jahre zuvor gesundheitsgefährlich.