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Onsen-Crash .. Was der Reiseführer verschweigt

Auf der Suche nach dem ultimativem Onsenerlebnis sucht man im Netz nach dem besten Urlaubsort mit einer langen Onsentradition, man wählt ein pittoreskes Ryokan. Im realen Leben sieht das dann anders aus und nicht wie auf dem Foto. (Es gibt einen Grund, warum viele Onsenorte eine Nachtaufnahme zeigen.)

Higashiyama Onsen
wäre aktuell (Stand 2018) das Paradebeispiel. Im Reiseführer findet man dieses Bild:

Bildquelle: japan-guide.com
Bildquelle: japan-guide.com; absichtlich keine Bild von mir damit man sieht, dass ich hier nicht flunker.

Und ja, genau an dieser Stelle sieht es genauso verträumt aus. Aber links sieht man schon einen hässlichen Betonklotz von Hotel; versteckt hinter dem Baum ein zweiter in rosa. Die Straße dahinter offenbart das ganze Problem: Es gibt quasi keinen Dorfkern mehr.

Weiter hinten, etwas abgelegen, gibt es noch einen weiteren großen Betonklotz von Hotel. Die Landschaft hat das Zeug für einen entspannten Urlaub, Aizu-Wakamatsu ist nur ein paar Busminunten entfernt. Eigentlich ideal. — Ich war 2018 kurz dort und war heilfroh, dass ich meine Reiseroute umgeplant hatte.

Naruko Onsen …
liegt abgelegen in den Bergen von Tohoku. Nur wenige Ausländer verirren sich hierher. Ich habe den Ort 2004 und 2014 besucht. Bereits 2004 fiel auf, dass der Ort schon besser Zeiten gesehen haben muss: Es gab Leerstand in der Hauptgeschäftstraße und viel Rost (Wellblechwände und -dächer). Ich dachte, das wäre normal für eine so abgelegene Gegend, wo viele junge Leute lieber in den Stadt abwandern. 2014 war der Leerstand gefühlt enorm.

Yudanaka Onsen
hat eigentlich eine sehr gute Lage: Es gibt eine direkte Zugverbindung nach Nagano. Es liegt am Anfang eines der besten  Skigebiete Japans (Shiga-Kogen, Olympische Winterspiele 1998). Die badenden Affen, die man aus dem Reiseführer kennt, wohnen auch hier in den Bergen. Dennoch: Läuft man durch Yudanaka (ich war 2004, 2012 und 2014), wirkt der Ort trostlos, alt und leer. Gerade Abends fehlten mir attraktive Izakaya.

Bildquelle: japan-guide.com
Bildquelle: japan-guide.com

In Minakami Onsen
angekommen wird man direkt am Bahnhof von einer Ladenzeile begrüßt, die traumhaft ist. Der erste Blick macht Hunger auf mehr.

Minakami – street in front of the station

Geht man dann aber vom Bahnhof zu Fuß runter in die Stadt, wird man sofort ernüchtert: leerstehende Hotelruinen, leerstehende Geschäfte, eine verfallene Brücke und eine menschenleere Hauptstraße (obwohl es Ende der Golden Week war).

In einer knapp 50m langen Baulücke stand ein größes Plaket, das einen riesigen Stadtplan zeigt. Gleich daneben, war der gleiche Plan etwas kleiner noch einmal montiert, um mehrere leerstehende Häuser zu kaschieren. Kurz: Minakami war nur ein Schatten seiner Vergangenheit.

Dieser rote Faden zieht sich durch nahezu alle Onsenorte; mal stärker (Atami Onsen), mal weniger (Kurokawa Onsen). Etwas Vergleichbares gibt es in Deutschland in der Form nicht. Stellt euch vor in Travemünde wäre die Kurpromenade ohne Touristen und es gäbe nur noch 5 geöffnete Geschäfte auf der gesamten Straßelänge.

Ursache #1: Onsen-Crash (am Beispiel Atami Onsen)

Mit dem Wirtschaftswunder der 50/60er Jahre stieg auch die Reiselust der Japaner. Die bis dahin eher verschlafenen Onsenorte wurden förmlich überrannt. Onsen waren ideale Orte für Flitterwochen. Firmen belohnten Mitarbeiter mit Urlaubsreisen oder starteten Betriebsausflüge, um den Teamgeist zu fördern.

Große Hotels mit hunderten von Zimmern schossen wie Pilze aus dem Boden, um die Touristen aufnehmen zu können. 1964 startete der Shinkansen mit einer Reisegeschwindigkeit von 200 km/h. Atami lag an der Strecke und war nun in 45 Minuten von Tokyo aus erreichbar. Hinzu kam die zunehmende Mobilität durch das Auto.

Atami – View from the Castle

Das Maximum war Mitte der 70er. Das Wachstum stockte. Es begann der Zeit der Eigentumswohnungen. Mitte bis Ende der 80er war die Zeit der Bubble Economy. Die Immobilienpreise explodierten (500% in 5 Jahren). Alles schien am Markt möglich … und in Atami wurde gebaut, gebadet und spekuliert.

Und dann kam der Dämpfer: Die Bubble Economie platze 1990; implodierte förmlich. Die folgende Rezession dauerte über 10 Jahre (ushinawareta juunen; das verlorene Jahrzehnt). Gehälter wurden knapper. Der Onsenurlaub fiel aus. Die Gäste, vor allen die Übernachtungsgäste, blieben fern. Waren es 1991 noch 4.4 Millionen Gäste in Atami, kamen 2010 gerade noch knapp 2 Millionen.

Die Folge waren Leerstand bei Hotels und Geschäften (vornehmlich Restaurants und Souvenirläden). In der Folge wurden auch Fischer arbeitslos: keine Gäste, kein Abendessen, keine Abnehmer für Fisch.

Ein Rückgang von 50% in den Besucherzahlen über 20 Jahre klingt jetzt nicht dramatisch. Aber sie markieren einen über 20 Jahre andauernden Rückgang. 20 schlechte Jahre für Hotels und Läden. Das zehrt jede Finanzreserve auf.

Von 65 Fischgeschäften in Atami existieren nur noch 4. Die Krise traf die gesamte Stadt, nicht nur die Hotelbranche. Geschäfte und Handwerskbetriebe schlossen. Leute zogen weg, wenn sie konnten.

Wie die Onsenstädte heute aussehen, steht natürlich in keinem Reiseführer. Man sieht nur die Highlights.

weitere Ursachen

In Narako Onsen gab es einen weiteren Dämpfer Ende der 2000er: den Wegfall einer Hauptattraktion. Der Ort ist berühmt für die Schlucht, die gerade zur Herbstlaubfärbung ein Touristenmagnet ist / war. Nach einem Taifun (war es 2010?) gab es mehrere Felsstürze und der Wanderweg durch die Schlucht wurde gesperrt.

Ich selbst bin 2004 noch durch die Schlucht gewandert; eine meiner favorisierten Erinnerungen aus 2004. Der Wegfall der Schlucht sorgte nach dem Ende des Onsen-Crash dafür, dass die Gästezahlen sich nicht erholten, sondern noch weiter zurück gingen.

Yudanaka Onsen kämpft mit einer weitere Folge des Onsen-Booms: dem alles-inklusive-Ansatz der großen Hotelburgen. Diese bieten dem Hotelgast alles unter einem Dach: Kneipen, Karaoke, Spielhallen, … Die Gäste blieben drinnen und die Straßen leer. Die Kneipen und Souvenirläden gingen pleite. Die Geschäftststraße verweiste. In der Folge starben die kleinen Hotels und Ryokans, die kein entsprechendes Rahmenprogramm bieten konnten pleite.

Das ist im Prinzip auch der Zustand, in dem wir Minakami Onsen vorfinden: die Straße ist leer, die Geschäfte verwaist.


Ein Neustart in Minakami Onsen

Minakami Onsen versucht einen Neustart. War die Zielgruppe früher der Renter, der die therapeutische Wirkung der Onsen sucht, so war es in Bubble Economy der Salarieman (サラリーマン) der eine Auszeit vom Alltagsleben suchte. Das reicht heute nicht mehr. Es braucht ein Rahmenprogramm. Die neue Zielgruppe ist ein junges Publikum, dass den Urlaub als Erlebnis (und Instragramkulisse) sucht. Minakami macht daher Werbung mit Whitewater Rafting, Canyoning, Bungee Jumping und Co. Gleichzeitig hat dieses Publikum ein begrenztes Budget und so liegt entstehen viele Hostels und Backpacker-Hotels.

Ich war 2019 in Minakami Onsen. Das Ryokan MICASA war traditionell und modern zugleich: Ein Tatamizimmer und ein traditionelles Speiseraum. Gleichzeitig fanden sich Farben wie rot und blau an der Wand. Alles wirkte modern und trendig ohne den Charme der alten Ryokans zu negieren. Das Essen ein Gedicht. Da wird selbst jemand wie ich zum Salat- und Konyaku-Fan.

Das Bier kam von der lokalen Craftbier-Brauerei Octone, die nur ein paar hundert Meter entfernt ihren Sitz hat. Kneipentechnisch muss sich noch einigen tun. Ich habe im Prinzip nur das Ruins besucht, das von einem Exilamerikaner betrieben  wird, den es hierher verschlagen hat.

Aber der Ort hat Potential. Die Anreise mit dem Zug ist etwas zeitaufwendig, aber lohnt sich. Minakami bietet neben dem erwähnten Aktivurlaubangebot die Möglichkeit zu Tagesreisen nach Takaragawa Onsen und Hoshi Onsen. Das Skigebiet Echigo-Yuzawa ist auch gut erreichbar. Und: Minakami gehört noch zur Kanto-Region und ist damit auch mit dem JR Kanto Pass erreichbar. — Ich bin gespannt wie das in ein paar Jahren (2024?) aussehen wird.

Ein Neustart in Atami Onsen

Atami Onsen geht den gleichen Weg und wiederbelebt mit Cafes und Hostels in der alten Einkaufsstraße den Stadtkern. Entsprechende erste Projekte starteten um 2010. Kleine Cafes, Guest Houses, Hostels. Das scheint der neue Weg sein. Das große Resort-Hotel scheint ausgedient zu haben.

Manche Guest Houses haben Gemeinschaftsküchen. Das spart den teuren Restaurantbesuch. Die Lebensmittel gibt es in der Einkaufsstraße. Der Fehler der Vergangenheit (alles unter einem Dach) wird so vermieden. Ich persönlich finde den Ansatz genial, wenn ich auch kein Fan von Hostels bin. Statt sich ein einem Hotel zu verschanzen, wohnt man quasi kurz in Atami.

Hotels vresuchen neue Konzepte. Kunstinstallationen,  Aktivurlaub, individuell designte Zimmer. Und dann ist da natürlich das Onsen und regelmäßige Feuerwerke im Sommer.

Und die Wende scheint geschafft. Ende der 2010er waren es schon wieder 3 Millionen Gäste. Selbst die Geisha kommen zurück; ebenfalls mit neuen Konzepten. Ich hoffe nur, dass die kein Sell-Out dieser Tradition wird. Gion-Corner in Kyoto ist für mich reiner Tourismus und wird der Geisha-Kultur nicht gerecht.

Daneben haben sich zwei weitere Standbeine etabliert: Die verlassenen Gebäude (und Straßenzüge) sind heiß begehrte Filmkulissen. Atami mausert sich zu einer kleinen Filmstadt. Allein in 2019 waren es knapp 100 Produktionen.

Andere Geschäftsräume werden umfunktioniert, als „working space“ für die IT-Branche. Atami profitiert hier von der Nähe und Shinkansenanbindung an Tokyo. Wer Geld hat und aus dem Home Office arbeiten kann, zieht aus Tokyo hierher.

Neustart in anderen Onsenorten

Yufuin Onsen und Yudanaka Onsen versuchen es mit eigenen Ansätzen: Hotelgäste haben die Möglichkeit, mit einem Pass die Onsen anderer Hotels zu besuchen. Das Angebot ist begrenzt auf 3 oder 5 Hotels und meist auch auf die Zeiten tagsüber eingegrenzt, in denen die eigenen Hotelgäste unterwegs sind.

In Kurokawa Onsen kann man sogar als Tagesgast einen solchen Pass für 5 Besuche erwerben. Und wenn man Lust auf mehr hat, dann man natürlich einen weiteren 5er-Pass kaufen, den man am Ende als Souvenir behalten kann.


Keine Sorge habe ich bei Shibu Onsen. Es ist der Ort neben Yudanaka. Während Yudanaka den Banhhof hat, hat Shibu die badenden Affen. Beide Orte und das Skigebiet Shiga-Kogen, das hier beginnt, werden oft also Yamanouchi zusammengefasst.

Shibu Onsen  hat 9 „public onsen“. 2004 durften noch Gäste aus Yudanaka diese Onsen besuchen, in 2012 bekamen nur noch Hotelgäste aus Shibu Onsen selbst den Schlüssel. Der Besuch der 9 Onsen und das Abstempeln des Tenugui [2004][2012][2014] ist ein Highlight und es bringt die Leute auf die Straße.

Stamp Towel 2010 aus Shibu Onsen
Stamp Towel 2010 aus Shibu Onsen

COVID-19

Als Folge des Pandemieausbruchs wurden im März 2020 die Grenzen geschlossen. Kein Ausläner drufte mehr ins Land; nicht einmal diejenigen, die einen Wohnsitz in Japan hatten. Im August wurden die Restriktionen gelockert, aber eine Einreise zu touristischen Zwecken ist weiterhin untersagt. In Orten wie Atami, die durch die Nähe zu Tokyo auch stark von Ausländern frequentiert wurde, brauchen die Gästezahlen um 80% ein. Noch ist unklar, wie sich das langfristig auswirkt. Viele junge Geschäfte werden aber nicht die finanzielle Basis haben, um diese Krise zu überstehen.

廃墟 .. Haikyo

Haikyo (廃墟) ist das japanische Wort für verlassene Häuser und Ruinen; in sozialen Medien gerne auch als Lost Places bezeichnet.

Man findet sich überall in Japan; von kleinen Nagaya-Häusern in Tokyo bis hin zur berühmten Battleship Island, einer verlassenene Insel auf der knapp 3000 Wohnungen und ein Bergwerk verfallen. Die häufigsten Haikyo sind Häuser in kleinen Dörfern und Hotels in Onsenorten.

Es gibt verschiedene Gründe, warum ein Gebäude aufgegeben wird, vom Einzelschicksal bis hin zum Niedergang einer ganzen Region oder eines Industriezweiges. Die Beschäftigung mit Haikyo kann sschnell in eine Gesellschaftsstudie ausarten. Hierfür fehlt mir aber derzeit die Motivation. Und so will ich das Thema aus Sicht des Touristen beschreiben, frei unter dem Motte: „Was der Reiseführer verschwieg“.

Den Teil „Onsen“ habe ich in einen eigenen Beitrag ausgelagert.


Nicht nur Onsenorte hat die Depression erwischt. Auch Städte sind voll mit Haikyo, von kleinen Häusern bis zu großen Gewerbeimmobilien. Sie finden sich in vielen Straßen. Und natürlich finden sich diese Bilder in keinem Reiseführer. Man sollte sich aber mental darauf einstellen, dass Japan nicht an jeder Ecke ein Postkartenmotiv liefert. In Takaoka und Tendo wird man schon direkt am Bahnhofsausgang von Haikyo begrüßt.

Wie in allen Industrieländern gibt es eine ständige Landflucht. Dies ist in Japaner sehr extrem ausgeprägt, wo heute über ein Drittel der Bevölkerung in den Ballungsgebieten um Tokyo, Nagoya und Osaka/Kyoto lebt. Bei Fahrten übers Land.

(Traurige) Berühmtheit erreichte ein Dorf auf Shikoku. Bis auf eine handvoll alter Einwohner, stehen alle Häuser, die Schule und Kaufhäuser leer. Eine Einwohnerin hat irgendwann angefangen, Vogelscheuchen aufzustellen, damit es sich nicht so einsam wirkt. (Aber das werde ich in einem anderen Eintrag genauer ausführen.)

Besser Wohnen

Selbst in Tokyo gibt es Leerstand. Hier trifft es vor allem ältere Häuser und hier vor allem die berühmten Nagaya. Diese für Japan typischen Wohnhäuser sind nicht mehr beliebt: eng, alt, schlecht isoliert und extrem hellhörig. Teilweise haben sie nicht mal ein Badezimmer (sie stammen noch aus der Zeit in  der der Besucheines Sento normal war).

Auffällig wird dies im Stadtteil Kyojima, im Osten von Tokyo. Der Stadtteil wurde von den Zerstörungen in WWII verschont. Der Flair ist komplett anders als innerhalb des Yamanoterings. Obwohl, der Sky Tree ist nur etwa 1000m Luftlinie entfernt.

Aber hier deutet sich ein Wandel an. Junge Menschen zieht es hierher. Die leeren Gebäude sind günstig. Hier kann man mit seiner Geschäftsidee durchstarten. Als Beispiel sei das Kendama-Cafe halahelu [Link] aka muumuu cafe [Link], der Maskenshop Kamenya Omote [Link] genannt (beide haben es in eine Folge von Tokyo Eye 2020 auf NHK geschafft) und das Satellite Cafe [Link], indem Kräutertees individuell aus dutzenden Einzelkrätern gemischt und aufgegossen werden.

Und es gibt weitere Ansätze leben in die alten Häuser zu bringen: Sie werden zu Ferienwohnungen umgebaut. In Yanesen (nördlich von Ueno, in Tomioka (nahe zum Flughafen Centair/Nagoya) und in Uchikawa (Toyama) gibt es bereits so Wohnungen ebenso. Mehr Japan als für ein paar Tage in einem Nagaya zu wohnen, gibt es wohl nicht. Zudem hat man eine eigene Küche und ist nicht auf Restaurants angewiesen.

Parkplätze

Während auf dem Land Baulücken sofort ins Auge fallen, sind sie in großen Städten (und hier vor allem in Tokyo) gut getarnt: Als Parkplatz für 3 bis 4 Autos.